weekend inspiration #105: wie lebt es sich in der fremde?
Schäbig, dreckig, kriminell – Worte, die fallen, wenn es um eins der lebendigsten, internationalsten Stadtviertel Frankfurts geht, das Bahnhofsviertel. Hier sammeln sich türkische Gemüsehändler, Nutten, Dealer und Hells Angels neben Kreativen und coolen Kneipen. Fremdsein? Kennen hier fast alle.
An diesem Wochenende ist wieder Bahnhofsviertelnacht; wer am Hauptbahnhof ankommt, marschiert kann von der Kaiserstraße direkt bis in die Innenstadt marschieren und dabei das Rotlichtgewerbe, die Bankwelt bis zur Innenstadt erleben: Kriminelle, Krösuse und Kreative auf einem Haufen und dicht an dicht.
Das ist Frankfurt. Eine kleine Stadt, in der seit Jahrzehnten Menschen aus über 100 Nationen friedlich Tag für Tag zusammen leben.
Ich bin eine der vielen Zugereisten; wohne in der Fremde wie soviele hier, begegne jungen Menschen: sie sprechen Dialekt und sind Frankfurter. Ihre Eltern kamen aus einem anderen Land hierher.
Wie fühlt sich die Fremde an?
Wer ist da fremd? Die Integration von rund einer Million Menschen funktioniert hier im Großen und Ganzen jeden Tag.
Viele Menschen verlassen derzeit ihre Heimat. Um ihre Lebenschancen zu verbessern oder weil in ihrer Heimat Krieg herrscht oder sie verfolgt werden.
Dass ich nichts Neues, hat es immer schon gegeben, sonst wären ja die USA niemals entstanden.
Was neu ist, ist die unmittelbare Nähe für uns in Europa, nicht wahr? Flüchtlinge sind scheinen plötzlich überall. Was passiert, betrifft uns alle. Ob es um den neuen Zebrastreifen vor dem Haus geht, die Gehaltseröhung öffentlicher Bediensteter oder den Umgang mit Menschen, die aus der Fremde hierhier flüchten oder einwandern wollen.
Ja, einwandern. Ich will, dass wir endlich davon sprechen und wie wir mit Menschen, die einfach nur ein Stück vom Kuchen abhaben wollen, umgehen.
Doch egal, ob Asylant oder Wirtschaftsflüchtling: wer seine Heimat hinter sich lässt, reist ja nicht nur von A nach B.
Und ich habe mir oft gedacht, dass wenige Menschen in Deutschland eine Ahnung davon haben wie es sich anfühlt, die eigene Heimat zu verlassen.
Das Vertraute hintersichzulassen.
Fremdsein – begleitet mich schon mein ganzes Leben.
Meine Großeltern sind aus Oberschlesien nach dem Zweiten Weltkrieg geflüchtet, meine Großmutter mit drei kleinen Kindern, während mein Großvater – glücklicherweise muss ich ja sagen – in englischer Gefangenschaft ausharren musste.
Willkommenskultur? Die Realität hieß Auffanglager, zugewiesene Wohnung, die anfangs mit einer anderen Flüchtlingsfamilie zu teilen war.
Tipptop organisert der Aufnahmeprozess, aber wenig warmherzig. Die Freunde meiner Großeltern waren größtenteils auch Flüchtlinge aus der “Heimat”, die ihr Einkommen mit einem Gemüsehandel verdienten.
Nieschen suchen und sich selbstständig machen – das ist bis heute der Weg von Zuwanderern; was die deutschen Flüchtlinge aus dem Osten ja auch waren.
Über ihr Leid und wie es sich auf Kinder und Kindeskinder auswirkte zu reden, war lange Zeit verpönt.
Doch wenn eine Gesellschaft ihr Verhalten nicht reflektiert und bewältigt, entweder aus Schuldgefühlen überreagiert oder abwehrt, sich in gegenseitigen Vorwürfen verstrickt, wie soll sich da ein gesunder, neuer Weg entwickeln?
Wer Flüchtlingen hilft in Frankfurt, ist meistens selbst zugewandert oder stammt aus einer ehemaligen deutschen Flüchtlingsfamilie, die in Westdeutschland eine neue Heimat gezwungen waren zu finden.
Wie lebt es sich also in der Fremde?
Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich nur sagen: ich wohne nicht mehr an meinem Geburtsort.
Familie und ehemalige Schulfreundinnen sind mehr als drei Autostunden entfernt, kein Besuch um die Ecke. Fremdsein war mein ständiger Begleiter:
Ich wohne an einem mir unbekannten Ort, meine Freundinnen und Bekannte sind vor allem auch Nicht-Frankfurter.
Ich habe in Heidelberg, Stuttgart und im Ausland gelebt: trotz aller vorbildlicher Willkommenskultur der Universität in den USA mit Gastfamilie und Ausländerbeauftragten – das Gefühl sich nicht mehr auszukennen, das bisher bekannte Regeln und Gesetze nicht mehr gelten, das ist Teil der Erfahrung, gilt als große Bereicherung.
Doch es ist eine sehr schwierige Phase: das reicht vom altbekannten Shampoo und Joghurt, der nicht mehr im Supermarktregal steht.
Alles Neu, alles anderes
Stattdessen empfängt einen eine Batterie bunter neuer Flaschen und Becher.
Geht weiter zu den Regeln im Straßenverkehr und dem Kleidungsstil. Bis zu Riten und Verhaltensnormen.
Wie denkt ihr? Kleidungsstreit in Kalifornien? Was kann das denn schon Schlimmes sein? Nichts Schlimmes. Aber ihr kennt doch auch den Spruch: andere Länder, andere Sitten.
Was einen befällt ist der gute alte Kulturschock, die Phase nach etwas drei Monaten, in der du alles hasst in dem neuen Land: den Postboten, die Farbe des Klopapiers oder auch nur den ewigen Sonneschein, der ständig vom Himmel grinst. Oh, was für ein schlimmes Schicksal mögen manche jetzt denken.
Aber das ist dann einfach nur zynisch.
Du vermisst deine Freunde, deine Familie – alles, was Vertrautheit und Sicherheit schuf.
Die Kleiderfrage führt nämlich direkt zur Gretchenfrage: weil nämliche keine Kalifornierin keinen BH trägt.
Sonst ist dir der Stempel als “gleichgeschlechtlich-liebende Frau” sicher.
Klar, kannst du die Rolle des europäischen Freaks wählen. Kein Problem. Doch das ist, was du dann bist – ein Außenseiter.
Wie sehr bist du bereit, dich an die neue Gesellschaft anzupassen? Bekanntes aufzugeben oder zu ändern und Neues zuzulassen?
Du klammerst dich an Altes aus der Heimat, um deine Sehnsucht zu bewältigen. Hast Angst, deine Kinder werden dir plötzlich fremd, weil sie in der neuen Kultur mehr Zuhause sind als in deiner eigenen, die du doch nur so bedingt verstehst. Integration ist immer auch eine Zeitfrage, in Generationen gedacht.
Was ich in meinem Schulalltag mit Erwachsenen in Frankfurt erlebe
Dreizehn verschiedene Nationalitäten sind normal.
Flüchtlinge aus Syrien, die ihre Familie nicht mehr erreichen und dementsprechend aufgelöst sind, in ihrem Land studiert haben und auf Rückkehr hoffen. Doch nicht immer erlauben das die politischen Realitäten.
Dann müssen sich diese Leute, ob sie wollen oder nicht, an einem anderen Ort eine neue Existenz aufbauen.
Nach welchen Kriterien wollen wir ihnen dabei helfen?
Das ist eine Frage, die Deutschland endlich mal beantworten sollte in einem Einwanderergesetz. Denn auch die vielen osteuropäischen Einwanderer suchen hier eine bessere Zukunft.
Jeden Tag treffe ich auf strebsame, vom Erfolgswillen getriebene junge Erwachsene zwischen 20 und 35 Jahren. Sollen diese Leute eine Chance bekommen?
Das wäre in einem Einwandergesetz festzulegen. Genau wie das, was passiert, wenn hier ansässige Menschen aus Kriegsgebieten mit einer Ausbildung, fester Arbeitsstelle nicht mehr zurück können in ihr Land.
Moralische Empörung tut so gut, aber was tut Not?
Der Wut von Menschen, die offenbar ihr Mütchen kühlen und Flüchtlingslager anzünden, gehört ein Riegel vorgeschoben. Fremdsein? Scheint ihnen fremd.
Genauso wünsche ich mir, von Mitmenschen, sie würden nicht in ihrer bequemen Ecke der moralischen Empörung darüber steckenbleiben und sich doch mal zum Flüchtlingsberater ehrenamtlich ausbilden lassen.
Oder eine Familie zeitweise zuhause aufnehmen. So wie esSue, eine Theaterfreundin von mir tut und so viele andere Bewohner in Frankfurt und dem weltoffenen Rhein-Main Gebiet.
Aus der Ferne empört es sich doch so einfach und die moralische Überlegenheit fühlt sich so gut an. Ich höre schon die Fragen: wozu schwingst du dich auf? Was tust du liebe Sabina?
Was ich tue?
1. In meinem Beruf hoffentlich meinen Schülerinnen und Schülern genug beizubringen auf ihrem Lebensweg, weil es für mich kaum etwas Wichtigeres gibt als Bildung und berufliche Perspektiven;
2. Ich unterstüze seit vielen Jahren einen brasilanischen Jungen über die Hilfsorganisation Plan, damit er eine Zukunft in Brasilien hat.
3. Ich unterstütze seit Anfang dieses Jahres die “Arche” in Frankfurt, eine Einrichtung für sozial schwache Kinder in Frankfurter Stadtvierteln.
Bin ich deswegen ein ganz toller Hecht?
Finde ich nicht: Ich bin aus eigener Erfahrung einfach davon überzeugt, dass Kinder und hilfesuchende Menschen das Recht auf eine Chance im Leben haben. Egal wo.
Hast du Erfahrung mit Fremdsein? Welche?
Meerblaue Grüße, Sabina
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